Anfänglich war es der harmlose Wunsch ein paar Kilo weniger auf den Rippen zu haben. Das war im Jahr 2003: Ich war 13 Jahre alt, trug Kleider in Größe 44 und hatte somit Übergewicht. Letztlich endete es mit jahrelanger Therapie, zwei Krankenhauseinweisungen und drei Klinikaufenthalten.
Der zweite und dritte in der „Klinik Lüneburger Heide“. Die letzte Einweisung wurde maßgeblich von Familie, Freunden, Therapeuten und Ärzten vorangetrieben und hätte ich nicht nachgegeben, wäre ich von der Polizei in Kombination mit einem Krankenwagen zwangseingewiesen worden. Ich wäre somit entmündigt gewesen. Ich hätte somit jegliche Macht über mein Leben verloren. Der Gedanke meines Umfeldes: „Lieber machtlos als tot.“
Glücklicherweise aber hatte ich zuvor einen klaren Moment, willigte einem erneuten Klinikaufenthalt ein und betrat so am 25. Oktober 2013 die „Klinik Lüneburger Heide“.
Damals wog ich 35,6 Kilogramm bei einer Größe von 1,68 Metern. Nie zuvor war mein Gewicht so niedrig. Nie zuvor hatte ich einen BMI von 12,7. Nie zuvor war ich so stolz und gleichzeitig so am Ende.
Viele kennen das Gefühl etwas nicht beeinflussen zu können, machtlos den Dingen gegenüberzustehen und nicht kontrollieren zu können. Allerdings denkt man sich nichts dabei, denn man weiß, dass das Leben nun einmal so ist – solange der Rest des Lebens im Griff ist. Dieses Bewusstsein fehlte bei mir und ich hatte eher das Gefühl, dass mir alles aus der Hand glitt und ich zu schwach war, um im Leben zu stehen. Ich verlor mich in einer Spirale von Perspektiv- und Hilflosigkeit und das einzige, woran ich mich festhalten und kontrollieren konnte, war ich selbst. Mich und das beeinflussbarste Grundbedürfnis eines Menschen: das Essen.
Die Essstörung
In Zeiten der Überforderung und der Befürchtung den Problemen im Leben nicht gewachsen zu sein, gab mir das Hungern die Sicherheit etwas – sei es auch nur das – zu beherrschen. Ich war im Stande zu hungern und fühlte mich gegenüber Anderen überlegen. Es gab mir einen Kick und machte mich stark: „Je dünner, je stärker.“ Die Blicke von den Menschen, denen ich begegnete, deutete ich als Anerkennung. Es gab mir Genugtuung und die Rückmeldung, dass auch ich es wert war, beachtet, gesehen und gemocht zu werden. Am Ende des Tages war ich stolz, es wieder einmal geschafft zu haben, nichts zu essen. Ich freute mich über jede kleine Anspielung von außen, da es folglich für mich bedeutete, dass meine Hartnäckigkeit mit Aufmerksamkeit belohnt wurde. Ich wollte beweisen, dass auch ich zu einer Sache imstande war. Es ging nur darum, durchzuhalten. Das Hungern galt für mich als Leistung und falls ich in manchen Momenten nicht die Kraft hatte, dieser Aufgabe gerecht zu werden, setzte das schlechte Gewissen ein und ich machte mir Vorwürfe. Ich hatte versagt, verloren und war schwach. Der Magen blieb lieber leer, als solche Empfindungen zu spüren.
Doch mit einer immer weiter sinkenden Zahl auf der Waage und zum Automatismus gewordener Gewohnheit nichts zu essen, erübrigte sich auch die Angst vor negativen Gefühlen. Ab einem gewissen Gewicht ist es niemandem mehr möglich, Emotionen zu spüren und für mich war das auch nicht mehr wichtig. Es zählte, dass es Anderen gut ging. Ich selbst war wertlos. Im Laufe der Zeit war ich nicht mehr in der Lage, mich auf eine Sache zu konzentrieren – doch mein Selbstanspruch verlangte mir Dinge aufzubürden, zu denen ich nicht die Kraft hatte, sie zu schaffen. Ich befürchtete, mein Umfeld immer mehr von mir zu enttäuschen und den scheinbar gestellten Erwartungen nicht zu entsprechen. Menschen zu enttäuschen, hieß sie zu verlieren. Vermeintliche Ansprüche von Außen an mich fielen allerdings, je zerbrechlicher ich wurde, weg und schließlich gab es nur eine Erwartung an mich: zu überleben.
Während den gesamten elf Jahren meines Lebens mit einer Essstörung hatte ich immer das Gefühl, autonom zu sein. Ich bildete mir ein, dass nur ich allein die Macht über mich selbst habe. Letztlich ist es aber der Körper, der die Zügel in der Hand hat und bestimmt, wie lange er noch durchhält. Die Folgeschäden, die diese Krankheit mit sich bringt, waren mir zu jeder Zeit klar. Doch wie bei vielen Dingen im Leben lernt man erst, wenn man es – im wahrsten Sinne – am eigenen Leib erfährt. Der Wunsch nach Sicherheit, Kontrolle und vor allem der Hoffnung gemocht zu werden, hat einen hohen Preis.
Einen Preis, der schon Leben gekostet hat.
Allerdings muss es nicht so weit kommen, wenn man sich in die richtigen Hände begibt. Doch: Wie kann man den Menschen helfen, die ihre Not einzig durch Nahrungsverweigerung ausdrücken? Was steckt hinter den Antworten auf die Frage nach den Gründen dieser Ablehnung, wie sie auch Kafka in seinem „Hungerkünstler“ formuliert: „Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders. Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, ich hätte mich vollgegessen wie du und alle?“
Zunächst muss die Thematik „Essstörung“ und die Art und Weise der Erkrankten zu denken, verstanden werden. Um einen Ausweg zu unterstützen, müssen außerdem die typischen Faktoren, die dieses Krankheitsbild mit sich bringt, festgehalten werden. Je früher diese in Erscheinung treten, desto besser und schneller kann die Genesung erfolgen. Leider fällt es heutzutage kaum noch auf, wenn ein Mensch mit seiner Figur unzufrieden ist, an Gewicht abnimmt, Interesse an der Nahrungszusammensetzung und dessen Kaloriengehalt zeigt und mit besonderem Eifer Sport betreibt. Die „unsichtbaren“ Dinge wie Erbrechen, Zwänge, sozialer Rückzug und das Weglassen von Mahlzeiten machen es zudem leichter, die Krankheit zu verstecken.
Das Krankheitsbild
Der Beginn einer Essstörung ist nicht der Wunsch einer Gewichtsabnahme und Diätverhalten keine Voraussetzung dafür. Jedoch kann beides der Einstieg sein. Die Basis für dieses Krankheitsbild bilden emotionelle Probleme, welche oft mit Depressionen und Ängsten verbunden sind. Die Betroffenen sind in den meisten Fällen perfektionistisch, haben ein niedriges Selbstbewusstsein, weisen starke Unsicherheiten im Umgang mit Anderen auf und sind stets darauf bedacht, Konflikte zu vermeiden, alles richtig zu machen und niemanden zu enttäuschen.
Der einzige Weg um Zuneigung zu bekommen, wird darin gesehen, dünn zu sein. Denn das bedeutet als attraktiv, intelligent und liebenswert wahrgenommen zu werden. Zudem tragen auch frühkindliche Faktoren wie die wechselseitige Interaktion zwischen den kindlichen Eigenschaften und der elterlichen Erziehung zu einer schwachen Persönlichkeitsentwicklung bei. Die für Essstörungen typische Persönlichkeit detailfokussiert, gewissenhaft und regelkonform zu sein, scheint nach heutigem wissenschaftlichen Stand auch durch genetische Faktoren bedingt. Die Unflexibilität und Rigidität des Denkstils führt zu einer Abhängigkeit von Routine und Gewohnheiten, die es unmöglich macht, am Leben vollkommen teilzunehmen.
In der „Klinik Lüneburger Heide“ beschäftigen sich tagtäglich über 20 Experten damit, dass sich Menschen mit solch einer Persönlichkeitsstruktur wieder auf ein vielfältigeres Leben einlassen können. Grundlegend hierfür ist die mit den Patienten gemeinsam zu erarbeitende „Symptomübersetzung“, denn Nahrungsverweigerung und Erbrechen sind nicht durch den Wunsch „dünn zu sein“ allein erklärbar. Es geht vielmehr darum herauszufinden, woher die Angst vor dem „zuviel sein“ und dem Leben selbst kommt. „Das gemeinsame Begreifen der Krankheit, der Gründe und Zusammenhänge ist wesentlich für die Bekämpfung einer Essstörung“, erklärt die leitende Oberärztin Wünsch-Leiteritz und fügt hinzu, „die Hilfe muss auch von außerhalb des Umfeldes kommen, da in der gewohnten Umgebung Krankheitsauslöser und -verstärker den Veränderungsprozess hemmen können.“
Das Ziel: Alte Denkmuster zu durchbrechen
Die Experten und die Patienten müssen gemeinsam der Ambivalenz zwischen der Veränderung des Gewichts und des Essverhaltens standhalten. Oberstes Ziel: das Durchbrechen von Überzeugungen und Denkmustern. Wichtig ist der eigene Wille der Erkrankten, denn nicht umsonst ist dieser neben einer stationären Behandlung, neuen Einsichten und Erfahrungen der Faktor, der den größten Einfluss auf eine Genesung hat. Die Stärkung persönlicher Ressourcen, wie Selbstwertgefühl und -akzeptanz, gilt als oberste Prämisse für eine zukünftige Stabilität. Dafür bildet das Zusammenspiel von Psycho- und Esstherapie den Grundbaustein, denn schon 1873 hielt Sir William Gull, ein englischer Arzt, der wahrscheinlich den 1. Fall einer Anorexie dokumentierte, fest: „Die Patienten müssen zu regelmäßigen Zeiten gefüttert werden, in Gegenwart von Personen, die sie moralisch unter Kontrolle haben.“ Mindestens genauso wichtig ist allerdings die personelle Anbindung für sich eventuell daraus schließende Probleme und/oder den Drang, dass die Nahrung selbstinduziert seinen Weg nach draußen findet.
Doch egal wie ausgeprägt die Krankheit der Einzelnen auch sein mag, der Umgang mit ihnen ist zu jeder Zeit respektvoll. Die Klinik hält es, wie es auch die Leiterin der Ernährungsberatung, Kühn-Dost sagt: „Die Patienten sind in erster Linie Menschen und nicht die Essgestörten.“
Manche Denkstrukturen und Überzeugungen werden bei mir immer bestehen bleiben. Umso wichtiger ist, dass ich mir immer wieder bewusst mache, warum es sich nicht lohnt, 35,6 Kilogramm zu wiegen. Ich halte es wie Pink Floyd:
Don’t give in without a fight!
Dieser Artikel ist in der dritten Ausgabe des auf 1000 Stück limitierten DILEMMA-Magazins erschienen: Bestelle Dir Dein Exemplar hier im Kaufladen!