„Lasst mich durch – Ich bin Schaulustiger!“

So lautet der Aufdruck eines T-Shirts, das ich kürzlich an einem Marktstand sah und mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht. Schließlich ist doch nachgewiesen, dass die Hilfeleistung gegenüber Dingen, mit denen man nichts zu tun hat, sehr gering ist. Dem steht das Interesse an Sensationen und Ungewöhnlichen gegenüber: Unfälle, auffälliges Aussehen, sichtbare Erkrankungen und oberflächlicher Tratsch und Klatsch – bis zu dem Zeitpunkt, an dem es einen selbst trifft. Dann kommen wir nicht umhin, etwas zu unternehmen – ob nun für uns oder für andere. Insgesamt leiden ca. 8,7 Millionen Menschen in Deutschland an einer seelischen oder körperlichen Behinderung, 7,1 Millionen davon schwer. Dazu kommen die Personen, die psychisch krank sind, es aber nicht zugeben. Entweder aus fehlender Einsicht oder aus Scham gegenüber der Gesellschaft. Aber auch das Offensichtliche scheint die Bevölkerung nicht darauf aufmerksam machen zu können. 

Zyklopenauge

32 Frauen- und 5 Kinder-/Jugendzeitschriften: So viele bekannte Magazine habe ich mir im Kiosk willkürlich innerhalb kürzester Zeit gegriffen, weil auf deren Titelbildern die neusten Erkenntnisse rund um die Gesundheit veröffentlicht wurden. Dabei lag der Fokus vor allem auf die Ernährung und das eigene Erscheinungsbild. Überall, ob in der S-Bahn, dem Fernsehen, in Schaufensterläden und unter Freunden werden wir mit diesen Themen konfrontiert: „Mensch, siehst du gut aus! Hast du abgenommen?“, lautet meist der erste Satz einer Begegnung mit einer Person, die man länger nicht gesehen hat. Dadurch wird jeder gezwungen, sich kritisch mit dem eigenen Körper auseinanderzusetzen. Das äußere Erscheinungsbild ist nicht zuletzt auch ein Indikator für Wohlbehagen und Zufriedenheit.

Sogar Ärzte werben mit medizinischen Hilfen zum Abnehmen, in den Apotheken gibt es Präparate zur Gewichtsreduktion – in vielfachen Variationen. Die Betrachtung des Gegenteils wird allerdings nicht aufgegriffen: nach Mitteln zur Gewichtszunahme sucht man vergeblich in den Regalen. Arztpraxen sind nicht der richtige Ort um für einen volleren Körper zu werben. Das liegt an einer weit verbreiteten Meinung: Wer dünn ist, lebe gesund und sehe darüber hinaus noch gut aus. Wer dick ist, riskiere gefährliche Herz-Krankheiten. Abgesehen vom Schönheitsaspekt mag das auch stimmen. Doch wer denkt schon daran, dass in Deutschland jede 2. Frau ein gestörtes Verhalten zum Essen hat und dass mehr als zehn Prozent der Frauen und fünf Prozent der Männer essgestört sind?

Der tägliche Umgang mit Menschen ist essentiell für uns. Es gehört zur Normalität, ständig in sozialen Kontakt zu treten. Dadurch wächst aber auch die Oberflächlichkeit mit der wir Menschen betrachten. Die Selbstverständlichkeit von Bekanntem führt zu einer mangelnden Aufmerksamkeit gegenüber unserer Umwelt.

Erfahrungen oder gar Schicksalsschläge sensibilisieren in eine bestimmte Richtung. So wie ich – als Anorexieerkrankte – durch die Straßen gehe, Frauen und Mädchen sehe und mich frage: „Gehören sie vielleicht zu den 70% Essgestörten, die Bulimiker und somit meistens normalgewichtig sind oder sind sie gar nicht in dieser Statistik erfasst, weil sie ihre Erkrankung geheim halten?

Bei „äußerst schlanken“ Personen fallen unter hervor gehaltener Hand – wenn überhaupt – Kommentare wie: „Na, der/die ist aber dünn!“ oder gar „Tolle Figur, so würde ich auch gern aussehen!“ „Korpulente“ sehen sich oft hämischen Bemerkungen wie „Oh mein Gott ist der/die fett!“ oder „Dass  man sich da überhaupt noch bewegen kann!“ ausgesetzt. Bei den „Normalgewichtigen“  wird fataler Weise meistens nichts gesagt. Ich kann mir diese Reaktionen nur durch 3 Dinge erklären:

1. Die Unwissenheit über Essstörungen in der Gesellschaft und die daraus resultierende Nicht-Beachtung der Menschen mit Gewichtsproblemen und/oder auffälliges Verhalten.

2. Der Selbstschutz jedes Einzelnen, wenn es um die Konfrontation mit Problemen anderer oder sich selbst geht.

3. Die Oberflächlichkeit und die Einstellung auf das Äußere zu achten – ohne den Zusammenhang mit der Psyche zu sehen. 

Was ist also aus dem Engagement für unsere Umgebung geworden? Was unternimmt eigentlich die Regierung unseres Sozialstaates? 

Sie wirbt zunehmend für eine gesunde Ernährung. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn man bedenkt, dass ausgewogene Nahrung der psychischen und physischen Gesundheit zu Gute kommt. 

50 Prozent aller Mädchen im Alter von 16 bis 17 Jahren sind mit ihrem Gewicht unzufrieden, 75 Prozent aller Frauen haben Diäterfahrungen. Allein diese erschreckenden Zahlen stellen die Frage, ob die staatliche Hilfe zu einem gesünderen Leben auch aus vermehrter Unterstützung von psychologischer Betreuung bestehen sollte. 

Viel besser wäre es präventiv zu agieren. Unser aller Seelenschmerz wäre gemindert, würden wir die Ursache bekämpfen: Wir sollten daher aufhören, unsere Mitmenschen wie Zyklopen anzuschauen – einäugig und einseitig. Wir sollten anfangen, jeden Einzelnen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.