Weder gestern noch morgen

Die beiden Herren am Nachbartisch haben das Thema sofort aufgegriffen. Ihre Aufmerksamkeit konnte sich angesichts der beendeten Schachpartie in der Umgebung zerstreuen. Die freundliche junge Frau, mit der ich sogar schon das ein oder andere Wort gewechselt habe, ist hemdsärmelig und beschürzt hinaus in den kalten Vormittag. Sie betreibt mit ihrer Familie dieses Café seit einigen Jahren. Ihr Vater hielt sie zunächst davon ab, wie sie zu den Herren am Nachbartisch kurz vor der Verfolgung meinte. Jetzt ist sie schon eine beunruhigende Weile fort.

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Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem fünfzigsten Stock aus einem Hochhaus fällt.


Was kurz zuvor geschah. Da sich der Heizkörper in meiner Küche direkt unter dem Fenster befindet, ist das Aufwärmen immer auch ein Blick in den Hof. Die einzige Öffnung in den abgedichteten Fassaden ist die offenstehende Tür zum sogenannten Müllraum. (Die junge Frau ist nun aber wirklich schon viel zu lange weg.

Jetzt ist auch ihr Vater hemdsärmelig und beschürzt hinaus in den Schnee. Dabei hielt er einen blauen Lappen in der Hand, mit dem er den Tisch abgewischt hat an dem die beiden Herren zuvor saßen. Kurz darauf kehrt er kopfschüttelnd zurück und ich höre aus der Küche irgendwo im hinteren Teil des Cafés erregte Stimmen.) Wenn aus dem sogenannten Müllraum in der Dunkelheit das Licht durch die Fenster auf den Schnee fällt, bleibe ich manchmal bei dem Anblick ein paar Minuten hängen. (Gerade kehrt sie zurück und berichtet rotwangig und mit leuchtenden Augen von einer Verfolgungsjagd begleitet von Passanten und Polizei. Wieder erregtes Stimmgewirr aus dem hinteren Teil des Cafés. Nun treten zwei Polizeibeamte und eine Art Praktikant ins Café. Der Polizeibeamte hat eine glänzende Stirn, obwohl man draußen den eigenen Atem sieht.

Die drei Beamten sehen aus wie eine Familie. Es wird hektisch und auf einmal ist nicht klar, was genau eigentlich vorgefallen ist. Ob überhaupt etwas vorgefallen ist. Sie erwähnt der Beamtin gegenüber ihr „osmanisches Blut“. In einem benachbarten Geschäft gab es wohl auch einen Quasi-Vorfall. Der Beamte notiert sich etwas.) Hin und wieder kreuzt jemand die Szene und unwillkürlich richtet sich das Interesse auf den Eindringling.  Jetzt scheint aus der offenen Tür des sogenannten Müllraumes nur Schwärze und der Schnee im Innenhof leuchtet matt. Ein Mann geht in den Müllraum. Und er kommt nicht wieder heraus. Ich stütze meinen Kopf in die Hände und meine Oberschenkel absorbieren die Wärme des Heizkörpers. Der Mann hatte keine Mülltüte bei sich, nur eine kleine Tasche über die Schulter gehängt, die in den neunziger Jahren um die Hüften geschnallt wurden. Nachdem das schwarze Rechteck zwischen dem Türrahmen sich rekonfiguriert hat. Kommt ein zweiter Mann und verschwindet in der schwarzen Öffnung. Als sie kurz darauf ins Licht treten hat der zweite Mann eine leuchtend weiße Tüte in der Hand, die so groß und vollgestopft ist, das sie ihn beim Gehen behindert. Ich erkenne die Tüte, die ich gestern Abend weggeworfen habe. Die andere Tüte kenne ich nicht und der Kochtopf, den der erste Mann in der Hand hält, ist mir auch nicht bekannt. (Ein seltsames Gefühl angesichts der nun unklaren Besitzverhältnisse. Die Öffnung zum sogenannten Müllraum markiert eine Grenze. Dass ich die Tüte sehe, die ich „meine Tüte“ nenne, bedeutet, dass die Grenze ein zweites mal und in entgegengesetzter Richtung überschritten wurde.)


Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder:


Als der Mann ins Café tritt,denke ich sofort an die beiden Männer aus dem Innenhof. Er bewegt sich zu langsam für diese Gegend und sein Blick ist kontrolliert, jedoch nicht kontrolliert in einer für diese Gegend typischen, indifferenten Weise. Seine Bewegungen sind nicht Resultat von Selbstreflexion, sondern Notwendigkeit. Er bestellt einen Espresso zum Mitnehmen. Kurz darauf betreten zwei Frauen unbestimmbaren Alters das Café und die zwanglos-oberflächliche Stimmung wird dicht und kalt aus dem Raum gepresst. Während die Blicke der Gäste sehr selbstreflexiv die Frauen in die Peripherie zu drängen versuchen, wo sie immer noch, gerade so, sichtbar sind, blicken die Frauen planlos umher, so sehr, dass es nicht planlos wirkt. Eine der unbestimmbaren Frauen geht zum Regal mit den Weinflaschen und nimmt eine Flasche heraus. Die junge Frau hinter dem Tresen sagt ihr den Preis. Die unbestimmbare Frau nimmt die Flasche und geht zur Kasse. Der Vater, die junge Frau und eine Mitarbeiterin sind sichtlich nervös und der grüne Geldschein, der unter einer schwarzen Daunenweste zum Vorschein kommt (So wird es auch der Polizeibeamte notieren.), ändert daran nicht das geringste.


Bis hierher liefs noch ganz gut, bis hierher liefs noch ganz gut, bis hierher liefs noch ganz gut.


Als die Frauen empört das Café verlassen, ist der Mann noch damit beschäftigt seinen Espresso in einem lächerlich kleinen Becher umzurühren. Kurz nach den Frauen verlässt auch er das Café und geht an dem Fenster, hinter dem ich sitze, vorüber. Er geht langsam und rührt sehr bedacht in einem winzigen Pappbecher herum.


Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung.


Im Grunde war ihr nicht klar, was genau vorgefallen ist. Die junge Frau, die mir gegenüber sitzt, muss darüber ein wenig schmunzeln. Sie geht den Vorfall in Gedanken durch. Um einen Anfang zu machen, erzählt sie von ihrem Großvater. Sie erzählt von ihrer Großmutter, die allein nach Deutschland kam und den Mann mit fünf Kindern zurückließ. Sie erzählt von Verfolgung, Umsiedlungen, Philosophen in Höhlen. Und sie erzählt, wie das alles irgendwie zu diesem Vorfall führte, der in ihrem Café an diesem Morgen so unklar und intensiv Grenzen bestimmte.