Flüchtlinge in Idomeni und Chios: Lager in Griechenland

Flüchtlinge ritzen sich Namen ihrer Liebsten in die Arme

Als Ute die Meldungen aus den Flüchtlingslagern in Griechenland liest, will sie verstehen, was dort passiert. Verstehen – das heißt nicht, die Zahl der Menschenleben zu bestimmen, die im Mittelmeer untergingen, um daraus eine adäquate Statistik für die nächste Power-Point-Präsentation zu erstellen. Verstehen bedeutet für Ute, die Mauer der Rationalität zu durchbrechen, um die Realität mit allen Sinnen zu erfassen und sich mit den Gefühlen hinter dieser Mauer zu konfrontieren. Deshalb fasst die 22-Jährige einen mutigen Entschluss. Im März diesen Jahres reist die Studentin der Kulturwissenschaften nach Griechenland, um den Geflüchteten dort als Freiwillige zu helfen. Bei ihrem Aufbruch kann sie noch nicht ahnen, wie viele chaotische Situationen und Schikanen vonseiten der Regierung auf sie zukommen werden.

Bevor sie nach Idomeni kommt, arbeitet Ute eine Woche lang in einem Camp auf der griechischen Insel Chios. Sie entscheidet sich dafür, mit der Initiative Dresden Balkan Konvoi dort ein Zelt zu bewirtschaften, in dem sie Tee für die Flüchtlinge ausschenkt. Bei ihrer Ankunft wundert Ute sich zunächst über die gelöste Atmosphäre im Camp: „Ich dachte am Anfang: Das ist ja gar nicht so schlimm. Ich fühlte mich, als wäre ich in einem großen Ferienlager gelandet.“ Erst nach einiger Zeit erkennt sie, dass die Geflüchteten gute Laune verbreiten, um nicht an der Verzweiflung ihrer Situation zu ersticken.

Ihre Perspektive ändert sich durch einige kurze, aber intensive Gespräche. Als sie einen apathisch in die Ecke starrenden Bekannten aus Syrien fragt, ob es ihm gut ginge, antwortet dieser: „Mein Cousin wurde gestern vom IS erschossen.“ Es sind diese Augenblicke, die Ute erstarren lassen. Hilflos sucht sie nach einer Antwort: Es gibt keine. Allmählich lernt sie, genauer hin zu sehen. Als ihr Blick über die Arme einiger Kriegsopfer schweift, erkennt sie Namen, die dort mit einem Messer eingeritzt wurden. Namen von Eltern, Geschwistern, Onkel und Tanten, die noch in den Kriegsgebieten ausharren müssen oder schon unter den Trümmern begraben wurden.

Flüchtlinge in Idomeni und Chios: Flüchtlingslager in Griechenland
Helfer und Flüchtlinge versuchen die Laune in den Lagern hoch zu halten, um nicht zu verzweifeln

Behörden behindern humanitäre Hilfe

Je mehr sie begreift, desto größer wird Utes Wunsch, zu helfen. Sie und die anderen Freiwilligen leisten oftmals Zwölf-Stunden-Schichten, wenn zu wenig Helfer vor Ort sind. Sie arbeiten unermüdlich, Tag für Tag. Nach einigen Monaten grenze das schon an Selbstaufgabe, erklärt Ute. Zusätzlich wird ihre Arbeit durch die Schikanen der griechischen Exekutive erschwert.

Auf Chios nutzen die Mitarbeiter der Nicht-Regierungs-Organisationen geliehene Kleintransporter, um Hilfsgüter zu den Menschen zu transportieren, die mit ihren aus Plastikfässern und Sperrholzplatten gebastelten Booten das Ufer völlig unterkühlt erreichen. Plötzlich erklärt die griechische Regierung, dass Ausländer in Griechenland keine Autos mehr leihen dürfen. Daraufhin werden die Hilfsfahrzeuge von der Polizei konfisziert. Nun müssen die Helfer einen riesigen bürokratischen Aufwand betreiben, um weiterhin Transporter nutzen zu können.

Weiterhin unternehmen Regierungen alles in ihrer Macht stehende, um den Ankömmlingen zu verstehen zu geben, dass sie in Europa nicht willkommen sind. Seit das Abkommen zwischen der EU und der Türkei Anfang April in Kraft getreten ist, werden die Flüchtlingsboote vom Militär abgefangen und in den Hafen von Chios geschleppt. Dem Abkommen zufolge haben nur Geflüchtete, die das europäische Ufer noch vor April erreicht haben, ein Anrecht darauf, in Griechenland Asyl zu beantragen. Die Neuankömmlinge auf Chios werden in Militärcamps untergebracht und dort mit militärischem Drill behandelt. Hilfsorganisationen haben keinen Zugang zu diesen Lagern. Der Kontakt zur Außenwelt ist den Geflüchteten untersagt. Niemand weiß, wie sich die humanitäre Lage dort gestaltet. Ute hat von befreundeten Freiwilligen vor Ort erfahren, dass dort nicht genug Nahrung für die Flüchtlinge zur Verfügung gestellt wird.

Auch als sie nach ihrem Aufenthalt in Chios für drei Wochen in dem Camp bei Idomeni Tee ausschenkt, erfährt Ute polizeiliche Willkür. Ohne jegliche Begründung wird Mitgliedern des Dresden Balkan Konvoi mehrere Male an der staatlichen Kontrollstation auf der Autobahn der Zugang zum Camp verwehrt. Die mangelnde Kooperationsbereitschaft der lokalen Exekutivkräfte bringt sie während ihre Freiwilligendienstes in einen Konflikt mit ihrer Mission.

Sie stellt sich oft die Fragen: „Warum sollte ich der Regierung bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise helfen, wenn ich von ihr nur schikaniert werde? Helfe ich den Menschen dort oder dem griechischen Staat?“

Flüchtlinge in Idomeni und Chios: Demonstrationen an griechischer Grenze
Plakate mit Forderungen der Flüchtlinge: Demonstrationen an der Grenze werden von der Polizei aufgelöst

Festnahme von Freiwilligen

Einige Freiweillige demonstrieren in Idomeni mit den Flüchtlingen, wenn diese einen Marsch auf die mazedonische Grenze veranstalten. Das würden sie vor allem tun, um die Geflüchteten politisch zu unterstützen, versichert Ute. Doch die griechische Polizei vermutet eine andere Intention hinter dem politischen Aktivismus. Sie nahm am 12. April drei deutsche Freiwillige auf einer solchen Demonstration fest. Sie werden beschuldigt, Gerüchte über die Öffnung der Grenze in Umlauf gebracht und somit einen Aufstand angezettelt zu haben, wie Spiegel Online berichtet.

Utes Angaben zufolge gibt es keinen Beweis für diese Beschuldigungen. Solche polizeilichen Aktionen sind viel mehr ein Anzeichen für die Überforderung der Sicherheitskräfte, die die politische Lage im Flüchtlingscamp kaum überschauen können.

Diese Überforderung kennt Ute aus ihren eigenen Erfahrung in den Zelten des Camps. Sie erinnert sich noch genau an eine Situation, in der sie Thunfisch aus Dosen an die Geflüchteten verteilt. „Alle kamen auf mich zu gestürmt,“ erzählt sie, „Und je weniger Thunfisch ich in den Händen hielt, desto enger wurde der Kreis der Menschen um mich herum. Die letzte Dose gab ich an zwei Jungen, die dann anfingen, sich darum zu prügeln. Das ist für diese Menschen so entwürdigend.“ Sie senkt den Blick, als sie diesen letzten Satz ausspricht.

Seit ihrer Rückkehr Anfang April versucht sie, zu realisieren, was in Griechenland passiert ist.  „Erst als ich hier angekommen bin, konnte ich weinen. Im Camp habe ich immer eine gewisse Distanz gespürt. Das war wohl eine Art Schutzreaktion,“ sagt sie. Trotzdem will sie wieder zurück, vielleicht in den Semesterferien. Da das Camp in Idomeni im Mai geräumt wurde, überlegt sie noch, wo genau sie dieses Mal helfen möchte. Ute führt ihren emotional langwierigen Prozess des Verstehens also fort. Fraglich bleibt, ob ein Mensch überhaupt wirklich fassen kann, was dort passiert, mit der letzten Thunfisch-Dose im Camp in Idomeni.