„Komm, lass uns wachsen!“

Ein Plädoyer für eine neue menschliche Innovation. 

Teil I von Benjamin Köhler

In den letzten Jahren ist es zu einem angeblichen Innovations-Boom gekommen – und das von Silicon Valley bis Peking und zurück. Innovationen, das sind vom Menschen geschaffene technische Produkte und digitalisierte Dienstleistungen. Sie gelten heute als Garant für Wachstum. Wachsen heißt nicht mehr Umsätze als im letzten Jahr zu erwirtschaften, sondern auch, sich zu etablieren. Und genau jetzt gilt es für den Menschen, sich weiterzuentwickeln und sich aus der Beta-Phase zu begeben. Damit meint die Informatik eine Phase in der Entwicklung eines Computerprogramms, das noch nicht fertig ist, aber schon alle späteren Funktionen besitzt, inklusive Fehler.

Dass Sachen unendlich wachsen, ist unnatürlich und urkomisch zugleich. Menschen wachsen – aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, danach verschleißen die Knochen. Im hohen Alter ist man dann kleiner als mit 20. Ob Edith viel kleiner geworden ist, lässt sich nur erahnen. Auf die Frage, was sie für technische Geräte besitzt, antwortet sie fast stolz: „Nur Haushaltsgeräte!“ Ohne Zweifel sind technische Geräte auch Haushaltsgeräte. Doch wer denkt, wenn er heute das Wort Technik hört, an Kaffeemaschine, Bügeleisen oder Elektroherd? 83 Jahre ist Edith alt. Sie erzählt, wie Geräte ihren Alltag vereinfachen, während sie Zuhause ihren Mann pflegen muss: „Ich bin schon darauf angewiesen. Es wäre mir auch zu primitiv, den Kaffee ohne Maschine aufzubrühen.“ Ihr lockiges, weißes Haar spielt einen Tanz mit dem Wind, sie schaut neugierig. Edith hat ein bewegtes Leben hinter sich, ihr Alter verrät es. Einen Weltkrieg hat sie erlebt, die Erschütterung und das Nichts danach. Jede Zeit bringt eben ihren eigenen Rahmen hervor.

Edith ist 83 Jahre alt. Sie erzählt, wie Geräte ihren Alltag vereinfachen, während sie Zuhause ihren Mann pflegen muss.

Edith ist 83 Jahre alt. Sie erzählt, wie Geräte ihren Alltag vereinfachen, während sie Zuhause ihren Mann pflegen muss.

In den 80er Jahren erhielten futuristisch gestaltete Fernsehprogramme und Comics Einzug: „Das Leben in den nuller Jahren – wie wird es wohl aussehen?“ war die zentrale Frage. Klar ist, wir haben schnellere, bessere und kleinere Computer. Wir haben Smartphones, wir haben ultraflache Fernseher und wir haben für jede Aufgabe einen Wegbereiter: Wir haben all das, was uns irgendwann einmal das Leben schwer gemacht hat, vereinfacht. Langeweile – Playstation. Arbeit – iMac. Zusammensein – Facebook. Das ganze Leben spielt sich auf Festplatten ab. Bekommt das „geistige Auge“ einen neuen Sinn, wenn Google seine Datenbrille „Google Glass“ auf den Markt bringt?
Mit der Zeit hat sich die Welt verändert, doch einige Sachen sind, so pragmatisch es klingen mag, gleich geblieben: Der Tag hat 24 Stunden, es gibt vier Jahreszeiten und beim Wetter gibt es keinen menschlichen Eingriff (den Klimawandel einmal außen vorgelassen). Könnten wir es, wurden wir wohl auch dies verändern, denn lange Winter nerven.

Alle elektrischen und technischen Geräte sind Innovation, alles im Internet ist Innovation. All das, was uns dabei hilft, schneller, besser und effizienter zu werden, steht im Zeichen der Innovation. Der menschliche Körper läuft im normalen Schritttempo circa fünf Kilometer die Stunde. Gedanken fassen, das macht der Mensch in Millisekunden. Mit bloßen Gedanken wird der Mensch jedoch kein Ziel erreichen, dafür muss er laufen. Und denkt er nicht nach, wird er nicht wissen, wo sein Ziel liegt und er wird das Ziel nicht erreichen. Er muss laufen und denken zugleich.
Dieses Gedankenspiel lässt sich gut mit der heutigen Zeit vergleichen. Sinnbildlich gedankenschnell haben wir Innovationen hervorgebracht, sinnbildlich langsam sind wir mit diesen Innovationen gegangen. „Wir haben uns weiterentwickelt“ – nein. „Wir haben Sachen entwickelt“ – ja. All diese Innovationen vereinfachen, doch sie verändern nichts – noch nicht. Menschen sind immer noch verärgert, traurig, böse, erfreut, euphorisch. Menschen haben Ängste. Und das muss so sein, das nennt sich Leben, und das ist das Wesentliche.

Technische Innovationen sind gut. Sie sind schick, helfen im Alltag und verhindern Langeweile. Wir verlassen uns auf sie. Die jetzige Welt ohne Technik wurde nicht mehr funktionieren. Manche Geräte allerdings sind Innovationen, weil sie es sein müssen. Wären sie es nicht, gäbe es sie auch nicht. Und genau hier liegt die Krux: Geräte werden als Innovation verkauft, sind es aber eigentlich nicht. Der Buchdruck, der Computer und vielleicht auch das Smartphone waren und sind innovativ – Apples angeblich neue Internet-Armbanduhr ist es nicht. Da fällt es schwer, sich auf den Wert des Lebens zu konzentrieren, wenn Geräte mehr Accessoire als Innovation sind.

Auf die Frage, ob Werte durch die Digitalisierung verloren gehen, weiß Edith eine klare Antwort: „Ja!“ Edith muss jetzt aber los, sie nimmt ihre zwei vollgepackten Einkaufstüten in ihre beiden Hände. Ein persönliches Taschentraggerät – das wäre es doch. Doch dafür hat sie keine Zeit, sie muss nach Hause, sich um ihren Mann kümmern, ihn pflegen und ihm so sein Leben vereinfachen. Ganz klassisch von Menschenhand.



Benjamin Köhler



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