Mütter haben eine enge Bindung zu Töchtern, erst recht Alleinerziehende. Wenn die Mutter zu früh stirbt, wird sie zur Ikone – unantastbar. Unsere Autorin erforscht ihre schmerzvolle Abnabelung und berichtet, wie sie ihre Stimme im Schreiben wieder findet.
Es war noch nachts als der Anruf der Klinik kam. Die kommenden zehn Stunden saß ich an ihrer Seite. Die Ärzte sagten, sie würde nichts mehr im künstlichen Koma mitbekommen, der Körper sei am Ende. In Gedanken schrie ich, sie müsse stärker als der Krebs sein. Auf dem Display beobachtete ich, wie der Herzschlag immer wieder noch oben schnellte. Irgendwann sagte ich ihr, sie dürfe sterben.
In mir wiederholten sich jene Worte, die sie mir an den Kopf geknallt hatte. Sie, meine Mutter, meine Familie, war wütend gewesen, war auf Morphin, nicht sie selbst. Es war das letzte Gespräch. Dann kam das Koma. Für Tage, Wochen; ich weiß es nicht mehr. Aber die Stunden am Bett sind es, die nachts seit fast zehn Jahren wiederkommen. Meine gesamte Jugend hatte sie gekämpft, nun war es zwecklos. Sie spürte, dass ich sie gehen ließ. Blut rann aus ihrem Mundwinkel.
Mit 16 wurde ich nachmittags um 16.11 Uhr zur Waise
Kurze Zeit später kam ein Filmriss. Monatelang sollte er anhalten. Eine Zeit, in der ich vegetierte, in ihrem Bett schlief und kein Möbelstück verrücken oder Menschen sehen konnte. Dennoch schaffte ich mein Abitur glanzvoll, nur sie war nicht da. Niemand sagte mir „ich bin stolz auf dich“. Ebenso beim Uniabschluss. Falls ich eine Tochter bekommen sollte, wird sie nicht an meiner Seite sein.
Als meine Mutter starb und jeder Halt wegbrach, wurde die Illusion von ihr mein Fixpunkt. Sei es optisch, stimmlich oder der Charakter – sie und ich sind ein Scherenschnitt im Familienalbum. Sie schaut mich auf dem Sperrbildschirm meines Smartphones an: schwarz-weiß, ein Foto der jungen Jahre. Eine unbekannten Person, die ich auch irgendwie bin.
Mit dem Erwachsenwerden und ersten Fehlern kommt die Frage: Wie war sie damals? Auch ihre Schwester ist tot, niemand kann mir von der jungen Frau berichten, die später meine Mutter werden sollte. Auf der Rückseite von Reisebildern und Partyschnappschüssen stehen Daten, Namen, wie „Hermann der Erste“ bis „Hermann IV.“. Oft wollte ich jenen Journalisten aus Darmstadt finden, auf dessen Moped meine Mutter in den 70ern mitfuhr. Von ihren wilden Zwanzigern erfahren, als sie in WGs wohnte und sich einmal so übergab, dass das Waschbecken verstopfte. Das erzählte sie, als eine Freundin und ich uns mit 14 betranken. Sie hielt unsere Haare, äußerte keine Vorwürfe.
Meine Mama fehlt mir
Es ist ein Versuch in der Vergangenheit Halt zu finden, wenn das Ankommen im eigenen Leben fern erscheint. War sie auch unsicher, hatte Zukunftsängste und verlor sich im Leben? Sie fehlt – schmerzlich. Das dumpfe Gefühl eine Hand auszustrecken, die niemand ergreift. Ich hätte sie gerne einem Mann gereicht. Nur wollte ich mich dazu niemals fallenlassen. Die wichtigste Person zu verlieren, hinterlässt eine klaffende Wunde, zu tief, um jemals zu heilen. Also waren meine Partner meist jene, die ich führen sollte. Darin glichen sie meinem Vater. Ein Mann, den meine Mutter verließ. Genau, wie ich es jedes Mal tat. Bis ich begriff, dass ihr Schema zu meinem geworden war. Auch ihres war Resultat einer Leerstelle. Sie verlor den Vater als Kleinkind.
Um jemals glücklich zu werden, muss ich die Illusion der Übermutter loslassen, wie ihren Körper damals auf der Intensivstation. Doch in meinem Schatten suche ich noch immer die vollkommenen Umrisse dieser starken Frau.
Besonders einsam ist es im Dezember: Wenn jeder aufgeregt von Geschenken und Familientreffen erzählt. Weihnachten war unser Fest mit festen Bräuchen, und jener Tag, an dem sie das erste Mal in die Notaufnahme musste. Damals war ich elf und sie schaffte es nicht einmal mehr die Tanne zu schmücken oder unser traditionelles Menü zu kochen. Ich tat es, sie gab mir den PIN ihrer EC-Karte, ich hob Geld ab, erledigte Einkäufe und kaufte auch mein eigenes Geschenk. Wochen später kam die Diagnose, die wir im Innern bereits ahnten. Seitdem habe ich Erfolg für sie; ja, keine Last sein, war die Devise meiner Jugend. Scheitern darf ich nicht. Niemals! Denn Fallen wäre ohne Netz.
Schuld ist ebenso Ansporn. Schuld, weil sie ihr Leben mir widmete, weil sie privat wie finanziell komplett zurücksteckte, damit ich alles erreichen konnte und heute kann. Doch die Einsamkeit lähmt. Sie war die erste Person, die meine Texte las. Mit ihrem Tod verließen mich die Worte, die Schrift und mein Glauben an sie. Sie lehrte mich früh in mich zu vertrauen, nur verschwamm auch dieses Bewusstsein wie Erinnerungen an ihre Stimme. Zeit heilt durch Vergessen und so vergrub ich mit ihr mein Schreiben.
Nach acht Jahren kam der Verlustschmerz derart heftig zurück, wie nach jenem Krankenhaustag Mitte Mai. Plötzlich lag ich erneut gefangen auf dem Boden, verlor mich Tränen. Der Schatten war größer als meine Person. Glücklicherweise hatte eine Freundin die richtigen Worte, um mir aufzuhelfen. Allmählich kam auch wieder das Bedürfnis zu schreiben. Heute verdiene ich damit mein Leben. Ich bin stolz auf mich.
Dieses neunte Weihnachten war das erste tränenfreie. Die Schemen meiner Mutter haben sich aufgelöst – die Nabelschnur ist entfernt. Sie ist die Frau aus einem früheren Leben.
Meine Mutter ist tot und ich lebe.