Liliana ist heute 25 Jahre alt. Vor sieben Jahren lernt sie einen jungen, türkischen Mann kennen und verliebt sich in seine charmante Art. Doch der Traum von der großen Liebe zerplatzt alsbald wie ein zu hastig übergestülptes Kondom. Nach wenigen Monaten der Verliebtheit beichtet der Traummann, dass er Schulden habe und diese begleichen müsse, da er sonst ins Gefängnis käme. Anstatt die Liebe ihres Lebens zu verlieren, verliert Liliana lieber sich selbst.
Sie verkauft ihren Körper und ihre Seele an andere Männer, um Geld für ihn anzuschaffen. Nun sitzt sie in dem kleinen Zimmer des Laufhauses, in dem sie sechs Tage die Woche arbeitet. Ihr knapper Rock entblößt ein Brandzeichen, das sie für immer an diesen Mann bindet. Doch die Narben in ihrer Seele sind tiefer als alle körperlichen Beschwerden. Sie möchte aussteigen, doch ihre Drogensucht und die Drohungen ihres Zuhälters verhindern dies.
Liliana könnte auch Maria, Lara oder Theresa heißen. Sie könnte 18, 29 oder 45 Jahre alt sein. Ihr Schicksal begegnet uns in dieser oder ähnlicher Form fast täglich in den Medien. Bei der Recherche zu diesem Artikel war Lilianas Geschichte eine der ersten, die uns im Internet angeboten wurde. Sie ist leicht umgeschrieben und mit Klischees über Prostituierte angehäuft. Trotzdem wundert es niemanden mehr, solch einen Bericht über Straßenmädchen zu lesen. Dieses Bild von der jungen osteuropäischen Frau, die auf Abwege kam und sich nach einem besseren Leben sehnt, herrscht vor, da ein Großteil der in den Medien geführten Diskurse genau diese Vorstellung konstruiert und kontinuierlich verfestigt. Bestärkt wird dieses Bild durch Debatten um Menschenhandel, Zwangsprostitution und Drogenkonsum.
Die überspitzte Geschichte von Liliana stellt eine Einzelschicksal dar und soll hier keineswegs zur Banalisierung der Thematik um unfreiwillige Prostitution beitragen. Sie verweist auf einen traurigen Aspekt von Sexarbeit in Deutschland. Leider findet dieser in den Medien fast ausschließlich Beachtung und trägt damit nicht dazu bei, dass die Toleranz gegenüber Prostituierten steigt, sondern drängt sie noch tiefer in die Rolle des Opfers. Sie lädt somit den Beruf mit Klischees auf.
„Pauschalkriminalisierung der Prostitution“
Die Erzählung über Lilianas Leben war in fünf Minuten erdacht. Doch bei der Recherche wurden wir mit unterschiedlichen Positionen konfrontiert, die ein vielfältigeres Bild von Sexarbeit und den Praktizierenden zeichnet. Um dieser Vielfalt im Beruf der Sexarbeit Rechnung zu tragen, setzt sich der Berufsverband erotischer und sexueller Dienstleister e.V. dafür ein. Prostituierten sollten eine Stimme bekommen, damit sie nicht „nur in den dunklen Phantasien und in den Vorurteilen lebendig“ sind, wie auf der Homepage geschrieben wird. Es sei nicht zu dulden, dass im öffentlichen Diskurs Sexarbeit in zwei Sphären gesteckt würden, die es laut Verband streng zu trennen gelte. Es muss zwischen der selbst bestimmten Prostitution, einer in Deutschland legalen Tätigkeit, und dem Menschenhandel und der Zwangsprostitution als Straftat unterschieden werden. Familienministerin Schwesig sagt dazu: „Es wird alles vermengt und das hilft überhaupt nicht“. Allzu oft wird diese Trennung nämlich nicht vollzogen. Es kommt zu einer „Pauschalkriminalisierung der Prostitution“, wie Johanna Weber vom Berufsverband betont.
Dieser gründete sich im Oktober 2013 und tritt mit seinen aktuell ca. 300 Mitgliedern gegen „die zunehmende Viktimisierung von Sexarbeiter_innen in den Medien“ an, so Pressesprecherin Undine de Rivière. Vor allem konservative Stimmen, wie sie Alice Schwarzer vertritt, haben die Vetreter_innen des Verbands den Kampf angesagt. „Ich habe einen Traum. Ich lebe in einem fremden Land. Ich muss nicht hungern. Ich muss mich nicht prostituieren. Ich bin nicht wie Vieh verkauft, nicht wie eine Sklavin verstoßen, nicht wie ein Hund lebendig verscharrt worden. […] Ich habe mich auch nicht mit Versprechungen oder Drohungen in ein reiches Land verschleppen lassen, Endstation Bordell. Ich bin eine Frau. Und im vollen Besitz meiner Menschenrechte“.
Diese und ähnliche Aussagen Schwarzers sprechen Prostituierten jede Entscheidungsfreiheit ab und postulieren, dass jegliche Form der Prostitution unfreiwillig und aus einem äußeren Zwang heraus stattfindet, sei er ökonomisch, gesellschaftlich oder durch eine einzelne Person verursacht. Es ergeben sich weitere Fragen: Haben Prostituierte keine Menschenrechte, keine Träume mehr – nur weil sie sich prostituieren? Und: Wer sagt, dass „Sexarbeiter_innen“ immer Frauen sind?
„Ich wurde und werde zu nichts gezwungen! Ich bin kein Opfer!“, schreibt Inshtar auf der Internetseite des Verbandes. In Deutschland gibt es nach Schätzungen des Bundeministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bis zu 400.000 Personen, die im – salopp gesagt – „horizontalen Gewerbe“ tätig sind. Prostitution ist hierzulande seit 2002 legal und ein Beruf, frei wählbar wie jeder andere. Zudem suchen immer mehr Menschen Prosituierte oder Callboys auf. Auch wenn diese Fakten als unsicher erscheinen – die genaue Ziffer kann nicht genannt werden –, was genau weiß man dann? Was sagt uns das über die Menschen? Das Bild eines Freiers ist mit genauso vielen Vorurteilen geschmückt, wie die Augenpartien mancher Prostituierten mit knalligen Lidschatten. Ein dicker, alter Mann der seine Patronen irgendwo abschießen will.
Hört man die Stimmen der Prostituierten, die sich als Opfer sehen, werden die Freier auch so beschrieben. Es gibt allerdings auch andere Motive: Einsamkeit, die Unfähigkeit soziale Beziehungen einzugehen (psychosozialer Immobilismus) oder körperliche Behinderungen können ebenso Gründe sein. Und selbst wenn es nur um den rein animalischen Trieb geht, so lässt sich nicht leugnen, dass jeder diesem Reiz unterliegt. Es ist ein natürliches Bedürfnis, dem jeder nachkommen will. Lust und Sexualität wird allzu oft durch gesellschaftliche Normvorstellungen unterdrückt.
„Ich bezeichne mich bewusst und mit Stolz als Hure, denn Huren sind Frauen, die ihre Sexualität selbstbewusst leben – und das tue ich!“, sagt Mara auf der Internetseite des Berufsverbandes und stellt damit eines klar: Wer so frei ist, sich von den gesellschaftlich auferlegten Sitten zu lösen, kann sich in seiner Sexualität auf einer neuen Ebene kennenlernen. Dies gilt sowohl auf Seiten der Sexarbeiter_innen, als auch für diejenigen, die Prostituierte aufsuchen.
Co-Autorin: Anna Kücking