Am Bahnhof der Prenzlauer Allee wartet ein Mann auf die Straßenbahn, um in der Flüchtigkeit der folgenden Augenblicke seine Zeitungen zu verkaufen. Sie befinden sich in dem ausgebleichten Jutebeutel, der schräg von seinem Handgelenk baumelt. Hans-Jürgen ist gut gelaunt. Er hat gelernt, dass ihn die höchsten Erwartungen in das tiefste Unglück stürzen können. Mittlerweile erwartet er nicht mehr viel. Mal sehen, wie viele er heute verkauft. Auch ich bin gespannt, wie ich dort neben ihm stehe vor den Gleisen. Heute darf ich ihn bei seiner täglichen Arbeit begleiten. Wir steigen in die Ringbahn ein. Ich stehe im Mittelgang einen halben Meter von ihm entfernt, während er sich zwischen den Passanten des Feierabendverkehrs aufbaut, die in den Gängen der S-Bahn stehen und mit festem Griff die Haltestangen umklammern. Halten muss sich Hans-Jürgen nirgendwo. Siebzehn Jahre als Verkäufer des Strassenfegers bringen eine gewisse Routine mit sich. Aber langweilig wird es mit ihm nicht. Er macht Radau, rüttelt die Leute aus ihrem Alltag.
„Na jut, dann machen wir mal ein bisschen Krach, und weil Donnerstag ist, etwas weniger…“
Die raue, polternde Stimme des Mannes dröhnt durch die Gänge. Einige gucken beschämt aus dem Fenster oder halten den leeren Blick auf die Smartphones gesenkt, doch viele schauen den Strassenfeger-Verkäufer an und lauschen gespannt. Hans-Jürgen macht es Spaß, die Straßenzeitung zu verkaufen. Er strahlt, während er mit ungeahntem rhetorischem Geschick die aktuelle Ausgabe präsentiert. Vor den müden Menschenmassen steht ein Mann, der weiß, dass er das repräsentiert, was er in genau diesem Moment ausstrahlt.
„Diesmal beschäftigen wir uns im Strassenfeger mit Speis’ und Trank. Eigentlich etwas ganz alltägliches, jedoch in der Weihnachtszeit auch immer etwas Besonderes, bei den ganzen leckeren Sachen, die da auf den Tisch kommen. Dann fangen die Augen der Kinder an zu leuchten und meistens die von den Erwachsenen auch.“
Bei jeder Ausgabe überlegt sich Hans-Jürgen genau, mit welchem Kniff er die Passanten für die Thematik begeistern kann. Leicht ist es nicht, im öffentlichen Raum auf Andere zuzugehen und sie in wenigen Sekunden von einem Produkt zu überzeugen, das sie nicht kennen und dem sie – im schlimmsten Fall – misstrauisch gegenüber stehen. Hans-Jürgen brauchte Monate, um seine eigene werbepsychologische Strategie zu entwickeln. Anfangs versuchte er wie die meisten anderen Verkäufer, um Unterstützung zu bitten und das Mitgefühl der Fahrgäste zu wecken, indem er ihnen seine Notsituation zu vermitteln versuchte. Für Mitgefühl jedoch ist in Berliner Bahnen oft weder viel Zeit noch Platz. Alles um uns herum ist hektisch und laut, während wir im Mittelgang stehen und versuchen, die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Nicht selten fühlen sich Menschen belästigt. Deshalb geht Hans-Jürgen gerne morgens los, wenn noch nicht so viele seiner Kollegen unterwegs sind. „Wenn die Gesichter schon zur Faust geballt sind“, meint er, „brauche ich gar nicht erst anzukommen.“
Der Verkauf der Straßenzeitung lief früher besser. Das liegt zum Einen daran, dass auf dem Zeitungsmarkt mehr Konkurrenz herrscht, zum Anderen daran, dass die finanzielle Lage der meisten Haushalte sich verschlechtert hat. Zudem wurden in Hans-Jürgens Augen viele Chancen verschlafen, um den Strassenfeger populärer zu machen und in das heutige Stadtbild zu integrieren. Diese Meinung ist vermutlich gut begründet, da er nicht nur Verkäufer ist, sondern auch einige Jahre Vereinsmitglied war. Außerdem wurde er einst einstimmig zum Kassenwart gewählt. Diese Position erfüllte er drei Jahre lang, bis ihm die Lust daran verging. „Als Verkäufer an der Basis bekommt man nicht so sehr mit, welche Querelen auf der oberen Ebene stattfinden. Das wurde mir dann als Kassenwart irgendwann zu viel, “ erklärt er.
Über sein privates Leben möchte der 54-Jährige nicht viel verraten. Er liest gerne die Süddeutsche und die Frankfurter Allgemeine Zeitung und lebt zurzeit in einem Wohnwagenpark in Caro. Viel mehr gibt er nicht Preis. Ich erkenne während unserer Gespräche jedoch, dass er ein freiheitsliebender Mensch ist, wenn er erzählt, dass ihm an der Arbeit vor allem gefalle, dass er den Strassenfeger verkaufen kann, wann und wo es ihm beliebt. In unseren Gesprächen gibt er zu: „An Hunden kann ich einfach nicht vorbeigehen.“ Tatsächlich geht er während unserer Tour durch den Berliner Nahverkehr auf jeden Hund zu, um ihn zu streicheln. Kleinen Kindern erzählt er gerne die Geschichte über seine zwei Monster, die bei ihm zu Hause leben und Mäuse fressen und fauchen können. Wenn ihm danach ist, kann er auch mal ganze Schulklassen während ihres Ausflugs in der Straßenbahn unterhalten.
Obdachlos sei er nur einmal drei Monate lang gewesen, sagt er, und daher sei er nicht so sehr an die Grenzen der Gesellschaft gestoßen wie manche Kollegen. Nicht alle Verkäufer des Strassenfegers sind obdachlos. Aber alle von ihnen bewegen sich an der Schwelle zur Armut, da der Verkauf harte Arbeit ist, für die sich die meisten nicht freiwillig entscheiden.
Wie hart diese Arbeit sein kann, erfahre ich, als Hans-Jürgen mich fragt, ob ich denn nicht auch einmal probieren wolle, die Zeitung zu verkaufen. Ich wäre niemals auf diese Idee gekommen. Aber theoretisch darf ja jeder den Strassenfeger verkaufen. Schließlich willige ich ein und überlege mir mit ihm zusammen am Bahnhof Storkower Straße, mit welcher Strategie ich nun vorgehen soll. Ich bin wahnsinnig aufgeregt. „Falls du Zeitungen verkaufst, darfst du das Geld behalten, da bin ich nicht so. Aber bitte mach’ mich nicht nach!“ sagt er noch, bevor wir wieder einsteigen.
Okay, und jetzt Ruhe bewahren. Als die Türen sich schließen, fange ich an, die Artikel der aktuellen Ausgabe zu präsentieren. Meine Stimme wird fiepsig und überschlägt sich einige Male. Zwischendurch verhasple ich mich, schaue hilfesuchend zu Hans-Jürgen hinüber. Die Zeit rast, mein Herz kann kaum mithalten. Dann endlich ist meine Vorstellung zu Ende. Nun aber kommt der schwierigste Teil: Ich muss durch die Sitzreihen laufen und die Fahrgäste fragen, ob sie Interesse hätten. Lächerlich komme ich mir vor, weil ich gerade versuche, in eine Esprit-Jacke gekleidet den Strassenfeger zu verkaufen. Dafür ernte ich so manche ungläubige Blicke. Was mich jedoch demütigt, das ist die Ignoranz, die mir eiskalt entgegenschlägt. Einige schütteln den Kopf, aber viele schauen nicht einmal hoch. Meine Knie werden weich und ich fange an zu zittern. Ich fühle mich ungebeten, wie ein lästiger Störfaktor, oder mehr: wie ein Nichts.
„Hans-Jürgen, die nehmen mir das nicht ab!“ „Nein, die nehmen dir das nicht ab. Gib die Zeitungen wieder her, ich mach’ weiter.“
In der Redaktion des Strassenfegers mit Andreas
„Die Leute müssen bei den Obdachlosen hingucken, nicht weggucken. Das ist das Wichtigste“, erklärt mir Andreas Düllick, Chefredakteur des Strassenfegers. Beschämt denke ich an meinen Selbstversuch und frage mich, wann ich das letzte Mal weggeguckt habe. Zum Grübeln bleibt mir aber keine Zeit, denn Andreas antwortet mir ausführlich auf meine Fragen. Wir sitzen in der Redaktion der Straßenzeitung, in der auf engstem Raum fünf Arbeitsplätze mit altem Mobiliar ausgestattet sind. Neben der großen Fensterfront ist die Wand uns gegenüber mit verschiedenen Artikeln der Straßenzeitung zugeklebt. Andreas offener Blick gibt mir einen Eindruck von Authentizität. Er ist ganz selbstverständlich hilfsbereit. Als mein Aufnahmegerät am Anfang des Interviews streikt, versucht er alles, um das Ding wieder zum Laufen zu bringen. Doch während seiner alltäglichen Arbeit mit Obdachlosen stößt er mit seiner Hilfsbereitschaft regelmäßig an seine Grenzen. Ungeschminkt schildert er mir die ganzen ungelösten Probleme. Mit Sozialromantik kann er gar nichts anfangen. Aber er ist stolz darauf, dass es den 23 ehrenamtlichen Helfern gelingt, zumindest die bitterste Not zu lindern.
Neben seiner Stelle als Chefredakteur bekleidet Andreas außerdem die Position als einer der drei Vorstandsvorsitzenden des mob e. V. Der „mob e. V. – Odachlose machen mobil“ ist der Dachverband, der nicht nur für die Produktion des Strassenfegers verantwortlich ist, sondern zudem das Sozialwarenkaufhaus Trödelpoint, das Café Bankrott und die Notunterkunft mit Betten für 17 obdachlose Männer und Frauen betreibt. Finanziert wird das Ganze über private Spenden und den Erlös des Zeitungsverkaufs. Alle Projekte waren in einem Gebäude, in der Prenzlauer Allee 87, vereint. Zumindest bis zum Februar dieses Jahres, denn bis dahin musste der Verein das Gebäude räumen.
Ein gutes Jahr davor wurde ihm das Mietverhältnis gekündigt, mit der Begründung, dass das obdachlose Klientel nicht mehr in den schicken, gentrifizierten Bezirk Prenzlauer Berg passen würde. Ab Februar zogen das Kaufhaus, das Café und die Redaktion um in die Storkower Straße 139d. Ein privater Vermieter sichert den Projekten dort für mindestens zehn Jahre die Zukunft. Was zum Zeitpunkt meiner Recherche noch keine Unterkunft gefunden hatte, das waren die Notunterkünfte des Vereins. Das hatte zur Folge, dass dieser Zufluchtsort im Februar zunächst schließen musste. Andreas und die anderen Vereinsmitglieder versuchten alles nur Erdenkliche, um von dem Land Berlin oder dem Bezirk Pankow eine Immobilie zur Verfügung gestellt zu bekommen. Auf ihre Anfrage hin vermeldeten die zuständigen Behörden lediglich, dass sie keine Liegenschaften für die Zwecke der Notunterkunft zur Verfügung stellen könnten. Dabei gibt es, Andreas Angaben zufolge, im Bezirk genügend leerstehende, bewohnbare Gebäude, die in staatlichem Besitz sind und geeignet wären.
Selbst wenn nach dem Zeitpunkt meiner Recherche doch noch Hilfe von staatlicher Hand kommen sollte, dieses Hinhalten und Taktieren ist für alle Beteiligten deprimierend und wirft einige gesellschaftliche Fragen auf. Wie kann es sein, dass der Staat allem Anschein nach nicht willens ist, einem Verein zu helfen, der ihm jeden Tag seine Arbeit im sozialen Bereich abnimmt?
Als ich mir diese Frage stelle, rufe ich bei Lioba Zürn-Kasztantowicz an, Bezirksstadträtin und Leiterin der Abteilung Soziales, und bitte sie um eine Stellungnahme zu der problematischen Situation. Sie zeigt sich betroffen darüber, dass sie den Notunterkünften keinen Raum anbieten kann. „Das Dilemma ist ein riesengroßes“, sagt sie, „Der Bezirk selbst hat keine Gebäude im Portfolio. Alle nicht genutzten Gebäude müssen aus finanziellen Gründen stets an den Liegenschaftsfonds abgegeben werden.“ Demnach werden leer stehende Gebäude, die nicht im privaten Besitz sind, vom Liegenschaftsfonds und vom Berliner Immobilienmanagement verwaltet. Dort fragte Zürn-Kasztantowicz an, um eine Immobilie zu finden, die für die Zwecke der Notübernachtung geeignet sind. Leider blieb dies erfolglos. Das Einzige, was sie dem mob e. V. nach eigenen Angaben eventuell in Aussicht stellen könnte, ist ein Bürogebäude in der Storkower Straße. Dieses muss jedoch noch bis zum Sommer dieses Jahres umgebaut werden. Im Gespräch beklagt sie die allgemeine Immobiliensituation der Hauptstadt, da aufgrund der innerstädtischen Verdichtung von Wohnraum kaum noch Platz für soziale Einrichtungen ist. „Es gibt keine Möglichkeiten für eine Sozialinfrastruktur und auch in Zukunft ist keine Entspannung der Lage in Sicht“, erklärt sie. Somit ist ihr Handlungsspielraum eingeschränkt. Fraglich bleibt aber, wie viel tatsächlich unternommen wurde, um dem mob e. V. mit seinen Übernachtungsmöglichkeiten zu helfen. So gibt die Bezirksstadträtin zu, dass sie bisher nur wenige Versuche unternommen habe, private Immobilienbesitzer nach geeigneten Räumlichkeiten zu fragen, da sie dieses Unterfangen als aussichtslos ansieht. Wenig später erwähnt sie, dass sie wegen der mannigfaltigen Aufgaben ihres Amtes nicht genügend Zeit habe. Zürn-Kasztantowicz könnte in ihrem politischen Amt jedoch mit Sicherheit mehr bei Immobilienbesitzern erreichen als die ehrenamtlichen Helfer des mob e. V.
„Die Politiker sind wohl überrascht, dass ein Verein, der bisher ohne jede staatliche Unterstützung auskam, nun Hilfe einfordert“, meint Andreas. Auf seinen Gesichtszügen zeigt sich die Enttäuschung, wenn er über dieses Problem redet, doch in seiner Stimme schwingt vor allem Aufregung mit. Auch obdachlose und arme Menschen seien Bürger des Staates, gibt er zu bedenken, und sie hätten ein Recht auf Hilfe. „Es kann nicht sein, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter klafft und immer mehr Arme auf der Strecke bleiben. Zu uns kommen inzwischen viele Menschen zum Essen ins Café Bankrott, die das früher wohl nicht nötig gehabt haben“, sagt Andreas.
Seiner Ansicht nach müsste vonseiten des Staates und der gesamten Gesellschaft mehr getan werden, um Obdachlosen zu helfen. Die meisten Menschen bräuchten eine Einzelfallbetreuung, um der Obdachlosigkeit zu entkommen. Aufgrund der beschränkten monetären und personalen Mittel des mob kann der Verein diese jedoch nicht gewährleisten. Daher gelingt die Reintegration nur in seltenen Fällen, wenn die Obdachlosen stark genug sind und die vorhandene Hilfe in Deutschland annehmen. Sie kommen dann zunächst in ein betreutes Wohnen, bevor sie eine eigene Wohnung beziehen und sich eine Arbeit suchen. Erschwert wird das Ganze dadurch, dass in Berlin kaum billiger Wohnraum zur Verfügung steht, der mit dem Hartz-IV-Satz abgedeckt werden könnte. Das Wichtigste und Schwierigste sei dabei, so erklärt Andreas, wieder Struktur in den Alltag zu bekommen, nachdem man jahrelang in den Tag hinein gelebt hat.
Die Gründe für das Abgleiten in die Obdachlosigkeit sind so vielseitig, wie die unterschiedlichen Schicksale, die dahinter stehen. Oft beginnen Jugendliche eine Straßenkarriere, wenn ihre Eltern sie rausschmeißen. Manchen Obdachlosen wurden die Wohnungen gekündigt, weil sie Messis sind. Häufig sind Drogen- und Alkoholsüchte sowie physische und psychische Krankheiten ein Problem. Durch die Wirtschaftskrise verlieren viele Menschen ihren Job und ihre finanzielle Sicherheit. Sie können ihre Schulden nicht abbezahlen und stecken dann den Kopf in den Sand, bis die Räumungsklage kommt. Andreas’ Äußerungen zufolge ist die Obdachlosigkeit meist selbstverschuldet.
Viele Obdachlose können mit ihrem Lebenslauf schlecht umgehen und lügen die Vereinsmitglieder deshalb an. Auch Andreas musste sich an die Arbeit mit diesen Menschen gewöhnen, da das Verhältnis oft von Misstrauen geprägt ist. Auf der Straße erleben diese Leute jeden Tag Enttäuschungen. Da fällt es verständlicherweise nicht leicht, Vertrauen zu anderen aufzubauen. Besonders das Verhalten mancher Journalisten gegenüber den Obdachlosen kritisiert Andreas: „Da hat uns schon einmal ein Journalist gefragt: ‚Habt ihr für uns einen Obdachlosen?’ Aber das sind Menschen, mit denen muss man reden!“ Wenn er darüber redet, wirkt er entsetzt. Er ist davon überzeugt, dass man in der Öffentlichkeit nur dann eine Wirkung erzielen kann, wenn man die Obdachlosigkeit aus der Anonymität holt und ihr ein Gesicht gibt. Dafür aber muss man sich mit den betroffenen Menschen beschäftigen.
Im Café Bankrott mit den Verkäufern
Ich sitze im Café Bankrott mit Hans-Jürgen und ein paar anderen Verkäufern zusammen. Das Café ist schmucklos eingerichtet, aber jetzt, zur Adventszeit, stehen zwei kleine, bunt geschmückte Tannen im Raum. Wir trinken Kaffee und rauchen, quatschen über alles Mögliche. Eine ältere, obdachlose Dame, die hier anonym bleiben möchte, kommt mit mir ins Gespräch und gibt mir einen Kaffee aus. Sie hat immer einen kecken Spruch auf den Lippen: „Wenn Leute mich fragen, wie alt ich, bin, dann sage ich immer 37, älter werde ich nicht mehr. Und wenn sie fragen, wo ich wohne, dann sage ich: Im Sieben-Sterne-Hotel.“
Sie hat Sehnsucht nach einer eigenen Wohnung. Ihre Wohnungssuche scheitert immer wieder daran, dass man sie in betreute Wohngruppen stecken möchte. Die Betreuung jedoch lehnt sie ab, mit der Begründung, sie wolle nicht mehr zurück in den Kindergarten. Ich kann gut nachempfinden, dass sie sich nicht mehr bevormunden lässt, nachdem sie jahrelang alleine den Überlebenskampf auf der Straße gemeistert hat. Nicht umsonst zitiert sie während des Gesprächs den Artikel Eins unseres Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Fasziniert bin ich von der ungebrochenen Willensstärke dieser Frau, die schon so vieles da draußen erleben musste. Jeder von uns würde wie Abschaum behandelt werden, wenn er dort stehen würde, am Rande der Gesellschaft, dessen bodenloser Abgrund sich vor uns allen auftut. Man müsse mehr Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit leisten, sagt sie, weil man sehr schnell dorthin kommt.
Aufklärungsarbeit leistet sie in den eigenen Reihen, bei den Leuten, die beim Strassenfeger anfangen und sich schwer damit tun, ihn zu verkaufen. Aufgrund personalen Mangels beim Verein gibt es Probleme bei der Koordination der Verkäufer. Als Inhaber eines Verkäuferausweises kann man sich für sechzig Cent pro Stück Zeitungen kaufen, um sie dann für einen Euro fünfzig weiterzuverkaufen. Neunzig Cent darf man also behalten, der Rest geht an den Verein. Wie genau man das mit dem Weiterverkaufen aber anstellt, das wird den Verkäufern nicht beigebracht. Viele scheitern bei ihren ersten Verkaufsversuchen an der allgemeinen Ignoranz. Sie geben zu schnell auf und gehen dann betteln, mit zwei Zeitungen in der Hand, die ihnen sozusagen als Alibi dienen.
Das Problem dabei ist, dass sie sich mit diesem Verhalten ihre eigene Existenzgrundlage entziehen. Die alte Dame bietet ihnen dann ihre Hilfe an. Sie zeigt den Anfängern Verkaufstricks oder lässt sie hinter sich herlaufen, damit sie sich bei ihr etwas abgucken können. Beim Verkauf hilft ihr vor allem Empathie. Innerhalb weniger Augenblicke weiß sie intuitiv, wie sie den Menschen ihr gegenüber überzeugen kann. Es geht ihr aber nicht nur ums Geld, sie kümmert sich um ihre Kunden: „Manche Leute kommen mit heruntergezogenen Mundwinkeln zu mir und gehen wieder mit einem Lächeln. Manchmal sind wir eben nicht nur Verkäufer, sondern auch Seelsorger.“ Sie zieht an ihrer Zigarette und auch auf ihren Lippen breitet sich ein Lächeln aus.